Brief zu "Revivre Lacan"

Drew Hammond

Januar 2022

Liebe Yvonne,

aus irgendeinem Grund musste ich an deine Courbet / Wahl-Arbeit denken, und da fiel mir folgendes ein:

Ohne deine Intervention entspricht das Original – oder besser gesagt eine Kopie davon im Zusammenhang mit deinem Werk – einer „objektiven“ Präsentation. Es ist, wie es ist – sozusagen „ohne Einmischung“ („unintervened“ um ein Wort zu kreieren). Sobald es aber durch dein Eingreifen zu einem Wahl-Werk generiert, wird es auf ähnlicher Weise zur „subjektiven“ Ansicht – vor allem, weil der Eingriff Elemente einführt, die sie variieren und verändern. Um genau zu sein, meint „subjektive Sichtweise“ eine, die unsere Wahrnehmung von den „objektiven“ Ursprüngen trennt. Wir können in der Form, wie du deine Intervention arrangiert hast, die sowohl mit transparenten Glasflächen als auch mit Licht arbeitet, einen partiellen Blick auf das Original erhaschen, so dass uns der Unterschied zwischen unserem aktuellen subjektiven Zustand und dem Original offensichtlich wird. Mit dieser Art und Weise wird nicht nur die Spannung zwischen diesen Polen verstärkt, sondern auch der Grad der Veränderung sehr deutlich. Denn selbst wenn wir die „veränderte Version“ sehen, können wir sozusagen diesen Grad des Eingriffs durch direkten Bezug und Vergleich mit dem Original messen. Diese Bedingung hat darüber hinaus einen zeitlichen Aspekt. Denn fast ausnahmslos sehen wir das „Original“ vor der Intervention und im Folgenden nach dem Eingriff. Dieser Effekt tritt auf, selbst wenn wir nur die Arbeit nach der Intervention sehen, weil unser Auge meist zuerst zu dem zugrunde liegenden Ausgangsbild wandert – und sei nur aus dem Grunde, weil es schärfer und so vertraut ist. Dieser Zustand der sukzessiven oder aufeinanderfolgenden jeweiligen Betrachtungsweisen innerhalb des Werkes rekapituliert die wahren zeitlichen Bedingungen der zusammengeführten Werke, denn in Wirklichkeit entstand das eine vor dem anderen. 

Dieses Umschalten oder Abwechseln zwischen dem was ich „objektiv“ und „subjektiv“ genannt habe, findet im Fall dieser Arbeit seine Entsprechung in einer Abhandlung von Husserl: der von „noetischen“ und „noematischen“ Wahrnehmungen. Husserl verdeutlicht diese Unterscheidung mit einer Geschichte über seine Wahrnehmung eines Baumes. Zunächst nimmt er den Baum als eine hohe Form mit einem braunen Stamm und einer scheinbar unendlichen Vielzahl von grünen Blättern wahr. Das Ensemble weist eine bilaterale Symmetrie auf; seine Form verändert sich mit dem Wind, usw. Dies nennt er die „noetische“ Wahrnehmung. Die „noematische“ Wahrnehmung hat mit einer Reihe von Assoziationen zu tun, die der Baum hervorruft. Jemand erinnert sich vielleicht daran, dass sein Vater ihn als Kind an diesen Ort mitnahm und sie sich unterhielten. Er erinnert sich an den Inhalt des Gesprächs, spürt die damit verbundenen Emotionen wieder und ein ganzes System von Assoziationen. Nun kann man sich das auch so vorstellen, dass der „originale“ Courbet eine noetische Vision des Werkes postuliert – vor allem für einen Erstbetrachter. Nach deiner Intervention entwickelt sich eine noematischen Wahrnehmung, deren erste Assoziation die des Courbets ist, die aber ein System anderer Assoziationen hervorruft, welche die Umstände und Erinnerungen an die erste Erfahrung mit dem Original einschließen können oder auch nicht: Vielleicht gab es draußen ein Gewitter. Vielleicht traf er oder sie bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal einen geliebten Menschen. In jedem Fall ist es die Fähigkeit des Werks in einem Wimpernschlag zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung und zwischen noetischer und noematischer Wahrnehmung zu wechseln – eine ganz besondere Erfahrung für den Betrachter mit einem Kunstwerk. 

Ich vermute, dass es noch andere Werke von dir gibt, die auf diese Weise funktionieren – ich denke da sofort an die Fotos, aber ich bin sicher, dass es noch mehr gibt, wenn wir anfangen, sie zu betrachten. 

Dein, Drew

 

„Der 1957 in London geborene Drew Hammond studierte Philosophie der Ästhetik bei José-María Sánchez de Muniain an der Universität Madrid (1975-1976) und chinesische Ästhetik und neokonfuzianisches Denken bei Wing-tsit Chan vom Department of East Asian Languages and Cultures an der Columbia University, wo er 1976-1982 promovierte. In den achtziger und neunziger Jahren lebte er in Folge in fünf lateinamerikanischen Ländern und schrieb unter dem Pseudonym M.T. Han Kunstkritiken für El Diario de Caracas und andere Publikationen. Im Jahr 2006 wurde er zum Gastdozenten für zeitgenössische Kunst für das Programm Globale Architekturgeschichte und -theorie an der Fakultät für Landschaft, Architektur und Design der Universität Toronto ernannt. Im darauffolgenden Jahr leitete er ein Graduierten-Seminar in Peking über die Theorie der Perspektive in der klassischen chinesischen Kunst für das Taubman College of Architecture and Urban Planning der University of Michigan. Ebenfalls 2007 wurde er als Dozent für zeitgenössische westliche Kunst 1962-2005 in chinesischer Sprache an die Graduate Faculty der China Art Academy in Peking berufen und hält weiterhin jährlich Vorlesungen über zeitgenössische Kunst für das Executive Masters Program in Art Market Studies (EMAMS) der Universität Zürich. Als ehemaliger Senior International Correspondent für The Art Economist hat sich Hammond auf Präsentationsstrategien in der zeitgenössischen Kunst spezialisiert. Neben zahlreichen Ausstellungskatalogen und Essays in Künstlerbüchern hat er auch in Texte zur Kunst, Flash Art, Art Investor, The Art Newspaper (China). und anderen Zeitschriften, die sich mit Kunstthemen beschäftigen, publiziert.“

Zitiert aus
https://uap.edu.pl/2021/03/drew-hammond-metonymic-narrative-in-contemporary-art/

AUSSTELLUNG / HAND IN DER HOSE, 2004

Dr. Andreas von Randow / Auschnitt einer Rede

Yvonne Wahl ist geprägt durch eine medienunspezifische Auffassung der Kunst: Performance, Video, Film, Skulptur, Installation, Text, Foto. Dabei steht die Eingebundenheit in eine gesellschaftliche Gegenwart zur Debatte. Gegenwart ist hier allerdings nicht gemeint als abbildbare Erfahrung sondern geht durchaus tiefer, Mythen und Märchen, Bewusstes und Versuche kollektiv Unterbewusstes zur Sprache zu bringen, einzudringen in die psychische Medienverarbeitung, Schnittstellen der Wahrnehmung erkunden. Medial vermittelte Welten werden verknüpft mit Erinnerungswelten, Gebrauchsgegenstände werden verbunden mit verehrungswürdigen Dingen, Kulturkreise nichteuropäischer Art werden mit europäischen Alltagserfahrungen zusammengebracht. „Lost in Translation“, ein sich poetisches Verlieren in die Übersetzung von Wahrnehmungshorizonten. Verborgenes und Offensichtliches zu erneut Fragwürdigem zusammenzubringen, das Fremde und das Eigene umkehren. Sich selbst fremd werden in Eigenen und das Fremde als das Eigene entdecken.

Yvonne Wahl ordnet ihre Ideenwelt zu Serien. Sie schafft das, was sich ihrer Gestaltung entbehrt zu einer geordneten Serie. Sie will Kontexte möglich machen für ihre eigene Werkorganisation. Ihre Themen schlittern von ernster erarbeiteter soziologischer Analyse hin bis zum Sarkasmus, Ironie, Satire. Dieses Schweben zwischen den Welten des Merkwürdigen, Eigenartigen, Komischen, Tragischen machen ihre Werke zu einem offenen Terrain. Sie entziehen sich der genauen terminologischen Festlegung. Man kann in ihnen ausgleiten.

Dr. Andreas von Randow

Kunstreferent im Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, 2004

KATALOG, 2004

Detlef Lieske / Text zu HAND IN DER HOSE

Die Heisenbergsche Unschärferelation besagt, daß eine genaue Ortsbestimmung eines Elektrons nur möglich ist, wenn auf eine gleichzeitige Bestimmung seines Impulses verzichtet wird, und umgekehrt. Dies hat seine tiefere Ursache darin, daß jede Messung eine Wechselwirkung zwischen Messgerät und Messobjekt beinhaltet. Wenn das Messobjekt so klein ist, daß einzelne Energiequanten, die mit ihm zwecks Messung in Wechselwirkung treten, es maßgeblich beeinflussen, dann ist keine gleichzeitige, exakte Messung komplementärer Zustandsgrößen mehr möglich. Komplementäre Zustandsgrößen sind solche Zustandsgrössenpaare, deren Produkt die Dimension einer Wirkung hat (g•cm2/sec), also Ort und Impuls, Zeit und Energie. Diese quantenphysikalische Aussage gilt zunächst für den Mikrokosmos, den subatomaren Bereich. Die Folgen und Folgerungen aber sind keineswegs zu beschränken, nicht auf die Physik und nicht auf mikrokosmische Angelegenheiten.

Leider ist es geradezu ein Merkmal der Quantenphysik, dass sie nicht anschaulich ist. Deshalb zunächst ein Vergleich, der das Wesen der Unschärferelation faßbarer machen soll: Ich stelle mir vor, ich erblicke in der Ferne einen grossen, grünen Baum, in seinem Geäst etwas Dunkles, schemenhaft – schattengleich. Ich komme näher und erkenne, dass es schwarze Vögel sind, eine ganze Menge, die in einer alten Eiche sitzen. Als ich noch näher heran bin, kann ich erahnen, dass es ein ganzer Schwarm ist, wohl Krähen. Ich werde mal versuchen zu zählen, aber — als ich noch ein paar Schritte weiter gehe, fliegen sie auf und sind verschwunden, gerade noch erkenne ich, dass es tatsächlich Krähen waren. Ich müsste mich zufrieden geben mit der Aussage: Ein grosser grüner Baum, in dessen Geäst etwas Dunkles ist, oder mit der Aussage: Eine ganze Menge Krähen sind eben aus der Eiche aufgeflogen.Wieviele Vögel dort sitzen, kann ich nicht sagen.

Eine Folgerung aus Heisenbergs Relation: Der Beobachter verändert das Beobachtete, er schafft Realität, indem er beobachtet. Der Umkehrschluss: Ohne Beobachtung gibt es keine Wirklichkeit. Das heisst, es könnte beliebige Wirklichkeiten geben, nur läßt sich über sie nichts aussagen. Eine Wirklichkeit, die nicht in tatsächliche Wechselwirkung tritt, ist schlechterdings keine – sie wirkt eben nicht. Das „es könnte“ schafft zwar Welten – doch nur im Kopf. Die Physiker haben zur Illustration dieser Erkenntnis Schrödingers Katze in die Welt (und in eine dunkle Kiste) gesetzt.

Ich werde nun die Pfade der Physik in der Hoffnung verlassen, zeigen zu können, dass Heisenberg in Wirklichkeit Kunsttheorie geschrieben hat. Dabei geht es mir nicht um eine strenge, formale Übertragbarkeit, sondern darum zu zeigen, dass das Prinzip „Unschärferelation“ auch im ganz greifbaren Leben eine Gültigkeit hat: Der mir unbekannte (sozusagen: beliebige) Mann in Indien [jeder Leser kennt ihn so gut, wie der Verfasser dieser Worte], hat jetzt, in diesem Augenblick, alle Geschichten: er ist am Verhungern, er gewinnt in der Lotterie, er schlägt sein Frau, er ist schon längst tot. Und er hat sie alle gleichzeitig, weil ich ihm nicht auch nur eine dieser Geschichten nehmen könnte, ohne mich festzulegen.
Steige ich in den Flieger, verlasse ihn in Indien, fahre nach Kalkutta, gehe dort durch die Slums, dann trennen sich die Geschichten und verteilen sich schön eindeutig auf einzelne Menschen, sobald ich zu differenzieren beginne und Geschichten den Menschen zuordne. Spreche ich mit einzelnen, erfahre ich Biographisches und lerne den einzelnen Menschen kennen. Doch die Eindeutigkeit findet ihre Grenzen.
Eine gewisse Nähe ermöglicht – sollte es heissen: erzwingt? – den Einsatz unserer zwischenmenschlichen Feininstrumente, Gefühle genannt. Beispiel: Ich setze mich zu dem Mann in Kalkutta, den ich eben angesprochen habe. Ich registriere: Ich bin neidisch auf ihn, weil er so einen schönen Anzug hat (er ist der Lotteriegewinner), mißtrauisch, weil er immer eine Hand in der Hose hat… Ich überlege, was sich tun kann. Nähe beginnt, Distanz zu schaffen. Wenn ich nun – stets noch beispielhaft – versuchen wollte, die Geschichte zu seiner Hand in der Hose herauszufinden, so könnte ich ihn befragen. Er würde das Mißtrauen in meiner Frage bemerken (oder, gleiches Ergebnis: selbst unsicher werden) und unwirsch reagieren, vielleicht wortlos davongehen. Verzichte ich auf weitere Forschungen, so habe ich mehrere Geschichten zu dieser Hand – wie wirklich mögen sie sein? Am Ende hat er gar keine Hand – –

Meine These dazu: Es gibt, auch im Zwischenmenschlichen, einen Punkt, an dem durch weitere Annäherung keine weitere Nähe im Sinne von Erkenntnis erreicht werden kann. Bis zu diesem Punkt öffnet sich der andere, d.h. kann ich weitere Geschichten ihm zuordnen, komme ich näher, beginne ich zu interagieren (denn ich bin der Beobachter) und trage dazu bei, dass er sich mir (also meiner Erkenntnis) verschliesst. Dies scheint übrigens auch auf Liebesbeziehungen anwendbar, selbst auf jene, in denen eine unio mystica der Liebenden beschworen wird. Den auch die uneingeschränkte Bereitschaft sich zu öffnen, bewirkt durch die grenzenlose Annäherung an den anderen die eigene Veränderung, als erstrebte Assimilation.

Ich verfolge die Idee, dass Kunst eine Kraft sein könnte, diese Unschärfen zwischen den Menschen zu reduzieren.
Dazu einige Behauptungen:

Kunstwerke sind Fixierungen ausgelagerter Bewußstseinsinhalte;

Kunstwerke sind auch Sedimente des Un-, Vor-, Unterbewußten.

Als solche können Kunstwerke nicht lügen, als materialisierte Geschichten sind sie stets von immanenter Wahrhaftigkeit.

Die Rezeption von Kunst ist der Bedingtheit zwischenmenschlicher Kommunikation entzogen.

Sie unterliegt allein der Bedingtheit der Wahrnehmungsfähigkeit.

Es gibt keine Wechselwirkungen zwischen Beobachter und Kunstwerk, allein die Wirkungen der Kunst auf den Betrachter.

Der Betrachter von Kunstwerken ist allein mit a) sich und der Welt in seinem Kopf, b) dem Kunstwerk

Völlig unabhängig vom ästhetischen Urteil des Betrachters ist die Welt in seinem Kopf nach der Betrachtung eine andere als vorher.
Ich finde es verblüffend zu erkennen, dass hier also – wenn man den Thesen folgen mag – allein der Beobachter verändert wird. Nun gibt es keine zwei Beobachter, die identische Veränderungen erleben, doch kann die Qualität der Veränderung vergleichbar sein. Um dies zu erreichen, darf Kunst nicht moralisierend sein, nicht normierend und nicht vorschreibend. Sie darf nichts behaupten. Sie muß in Frage stellen. Es mag paradox klingen: Um etwas beim Betrachter zu hinterlassen, muß sie versuchen, ihm etwas zu nehmen.
Was ein Kunstwerk als erstes in diesem Sinne angreifen kann, sind die Wahrnehmungen selbst.
Es kann – und soll – Wege der Wahrnehmung ebenso hinterfragen wie die Verarbeitung und Kategorisierung von Wahrnehmungen.

Traue nicht dem, was du siehst! – So könnte eine Botschaft von Kunst lauten. Und damit unmittelbar die Frage evozieren: Worauf soll ich mich denn sonst verlassen? Hierzu hält das Kunstwerk – als Vorschläge – Geschichten bereit. Geschichten, die im Idealfalle wegführen von den Pfaden der Annäherung von aussen.
Eben dies, die Dinge nicht von außen begreifen zu wollen, sondern hinter der Oberfläche ihren Kern zu erkennen, ist der Kerngedanke der (Früh-) Romantik. Ich referiere in Kürze die Grundaussagen mit heutigem Vokabular:

Die Gegenwart ist defizitär, da ihr Teile der ehemals vorhandenen vollständigen Welt abhanden gekommen sind. Diese abhandenen Teile sind aber nicht endgültig verloren, sie haben sich nur dem Zugriff durch die Allgemeinheit entzogen.
Es gibt Vermittler, die diese Teile sichtbar machen können, den Kontakt wiederherstellen können. Was sich allgemein als unbestimmtes Unbehagen äußert, kann der Vermittler zur konkreten Utopie verdichten: Wir können etwas tun, um das Verlorene zurück zu erlangen. Dieser Schritt wäre kein „Zurück in die heile Vergangenheit“, die Vergangenheit ist nicht Vorbild der Zukunft, sondern Abbild des Verlorenen. Erst aus der Synthese von Gegenwart und verlorenem Gewesenen entsteht durch konkretes Handeln im Jetzt das Neue. Die Annäherung daran kann nicht von außen erfolgen, nicht dadurch, dass Oberflächen vermessen oder Schleier fortgerissen werden.

Kunst bietet, auch das ist ein romantischer Gedanke, Wege an, die Kerne freilegen oder wiederherstellen. Ein solcher Kern ist – Kernthema jeder intentionalen Utopie – die Erkenntnis menschlicher Identität, das Finden von Heimat.

In diesem Sinne: Sehen Sie nicht so genau hin!

Dr. Detlef Lieske
geb.1958, Kiel – gest. 2008, München
Studium von Germanistik, Geschichte und Philosophie; Dissertation über mittelhochdeutsche Kreuzzugslyrik. Arbeitete zunächst in der Politik als Redenschreiber und Texter, zuletzt als Angestellter eines Versicherungskonzerns und Leiter des Personalmarketings.

artist statement

Yvonne Wahl

Als Konzeptuelle Bildhauerei betitle ich mein Werk. Verlinkt zu politischen, psychologischen und soziologischen Themen schwimme ich künstlerisch als Schwamm durch das Leben und die Zeit. In diesem Sog suche ich zwischenzeitlich Halt an kunsthistorischen Vorbildern, um mich dann wieder auf Reisen neugierig und ungesichert von fremden Kulturen beeinflussen zu lassen.
Die Phrase Das Fremde im Eigenen, das Eigene im Fremden begleitet die Entwicklung meines aus dem eigenen Erleben erwachsenen Werkes. Durch die Konfrontation mit mir Befremdlichem versuche ich mich – wenn möglich – an Akzeptanz sich selber und dem Anderen gegenüber. Genderswap, ironische Provokation, Spiel und Humor setze ich dabei als Werkzeuge ein. Speziell über ausgewählte ikonische Werke meiner Kunst-(Groß-)Väter lege ich mit dieser humorvollen Haltung meinen feministisch-romantischen Filter.

Ob ortsspezifische Installation, Skulptur, Performance, Film oder Fotografie – jede meiner künstlerischen Arbeiten beinhaltet die bildhauerische Bezugnahme auf Körper, Räumlichkeit und Situation, sowohl der eigenen wie auch die der Bedingungen der Betrachtenden.
Mein Werk verstehe ich als eine Liebeserklärung an das poetisch Fassbare, an die Bildhauerei.

yvonne wahl – philosophy of soothed discomfort

martin eugen raabenstein

in den gegensatzpaaren versprechen / erwartung und erfüllung / enttäuschung spiegelt sich menschlich erlebtes sein in der kunst. im geübten umgang und im idealfall mit einer ausgewogenen durchmischung der erfreuenden und betrübenden elemente eines selbst formt sich, so nehmen wir an, eine stabile persönlichkeit. eine darauf aufbauend differenzierte wahrnehmung begegnet einem kunstwerk entsprechend mit einer gewissen offenheit. hierbei spreche ich nicht von brav gelöffeltem wissen eines in den letzten vier jahrzehnten eilfertig aufgeschichteten inhaltsgebarens. gerade die künstliche verdichtung eingängiger zeitgeistigkeiten versperrt einen ungetrübten blick auf das was kunst im besten falle immer nur sein kann … die antwort auf eine individuell gestellte frage an das werk.

intuition, neugier und ein persönlich hinzugefügter erfahrungsschatz generieren einen dialog mit kunst, der je nach unterschiedlicher ausgangsposition idealerweise zu sich widersprechenden erkenntnissen führen kann, was wiederum einem lebendigen dialog nur förderlich ist. die nackten brüste einer frau in eine teigige masse getunkt, versehen mit der beschreibung ‚heavy cheesecake“ erlaubt einen perfekten einstieg in die fein gesponnene welt der künstlerin, spielt sie doch sehr eindrücklich mit den eingangs erwähnten paaren menschlichen erfahrungszuganges. ’seriöses elend‘, eine installation mit brav arrangiertem wohnzimmer interieur (bergstübl projekte 2003), zu füssen einer minimalistischen wandarbeit ergänzt diesen zugang listig hinterfragter gesellschaftlicher standarts. gerade weil brüste in käsekuchenmasse gedrückt kein standart sind, die einöde einrichtungshauskatalog entnommener dekorationsuntüchtigkeit aber sehr wohl, entsteht in der spannung zwischen einem feuchtpupertären jugendtraum einerseits und den allzu vertrockneten ungeschicklichkeiten fortgeschrittener erwachsener ein bogen, unter dem wir die intentionen wahls in aller ruhe untersuchen können.

das gängigste versprechen eines witzes ist die zu erwartende ausgelassenheit;  genau dann nämlich, wenn er sich in seiner pointe auflöst. die gründe warum ein befreiendes lachen soziologisch nicht hoch genug gestellt werden kann, sind in einer zeit, in der sich gesellschaftlich zersplitterte gruppierungen in immer kleinere und verfeindete zellen aufspalten fraglos naheliegend. wiewohl auch zu bedenken gilt, dass diese erlösung meistens auf dem schaden eines individuums aufbaut, ist das gemeinsame lachen auch immer die möglichkeit eines aufeinander zugehens. wenn kunst die antwort auf eine gestellte frage ist, ist die darstellung einer teigumwölkten frauenbrust zunächst nur im ersten moment witzig. gerade weil sich in den letzten jahren eine gewisse unsicherheit eingeschlichen hat, genauer zu bedenken wann, und vor allem warum wir jetzt lachen dürfen, sind brust und sofa süffig und giftig gleichermassen.

‚der ursprung der welt‘, ein skandalumwogenes gemälde von gustave courbet, das wahl als reproduktion in einer arbeit verhandelt, mischt diesem aufgespanntem diskurs seelenruhig den begriff der scham bei. eine breitbeinig liegende frau, im zentrum ihr behaartes, aufgebahrtes geschlecht, der bildausschnitt fokussierend beschränkt auf deren entblösstes, nacktes fortpflanzungsorgan wird schlagartig unscharf, wenn sich jemand dem bild nähert. bewegungsmelder bewirken den effekt des bildentzuges; die sich ertappt fühlende person jedoch kann den eigentlichen ursprung dieser werkverweigerung nicht einordnen. nur eine absolute bewegungsstarre entriegelt im wahrsten sinne das objekt erneut. so wird die scham des in eine inszenierte imtimshäre eindringenden individuums zur ursache diese dargestellte scham nicht weiter betrachten zu können. hier stellt sich erneut, nur eindringlicher formuliert, die frage nach dem schwellenwert zwischen sexueller neugier und voyeurismus.

indem die künstlerin einerseits den witz und die damit verbundene irritation als erlösung und publikumsberuhigung instrumentalisiert, schnappt die schuldfalle bei der betrachtung des courbets gnadenlos zu. das tier hat sich selbst gefangen. eindrucksvoller kann man ein freudsches piano nicht bespielen. die künstlerin schweigt und lächelt mild. so mischt sie nur noch mehr rouge auf die ohnehin glühenden backen ihrer betrachter. gerade weil kein moment ewig wahren möchte rudert wahl mit der arbeit ‚pussyhat‘ geradewegs wieder zurück und setzt der schamdurchsafteten menge das weibliche geschlecht als strickware einfach auf den kopf. in der unschärfe der frage verbirgt sich hier wiederum wahls stolperstrick. ‚ist das jetzt eine…?‘ auf dem kopf oder ist die person die sie trägt ‚eine…?‘, oder bezieht sich das ganze auf jemanden dritten? versprechen, erwartung, erfüllung und enttäuschung urarmen und trösten sich in diesem werk mit einer leichtigkeit die grenzen aufzuheben verspricht, aber nur bedingt. in der übermässigen repetition ihrer selbst ertrinkt jede idee. so deuten wir es als künstlerische intuition dass yvonne wahl das spiel mit dem genarrten publikum nur mit gewissen zeitlichen abständen in ihr gesamtwerk einfliessen lässt.

martin eugen raabenstein 12/2022
künstler
lebt und arbeitet in berlin

LOOSER IN DIGITALEN LUFTSCHLÖSSERN

Dr. Johannes Schröder / Auszüge aus dem Text zur Ausstellung BELIEVE IN ART! im EINSTELLUNGSRAUM in Hamburg

Aus dem Erdloch in die Luft
Das Schwere und das Leichte

Wahl lässt ihre Figuren – „die Looser “ – von projizierten Fotos überstrahlen, die sie während der Fahrt in Megastädten wie N.Y., L.A. oder Bejing aufgenommen hat. Sie setzt Bilder des Flüchtigen, ja Immateriellen ein, was durch die Beamer-Projektion der digitalen Datensätze unterstrichen wird. Die zeilenweise Bildauflösung erzeugt in Verbindung mit den kontrastreichen Lichtkaskaden der Fotos und der Zoomeinstellung ein Flimmern, das die Stadtansicht zu einer Fata Morgana macht. Als Verbildlichung sprichwörtlicher „heißer Luft“ werden Stadtansichten, die über den Objekten schweben, zu einer vagen Erscheinung. Die Schwere der auf dem Boden gefangenen Objekte tritt umso drastischer zutage, denn sie wirken im dunklen Zentrum wie die Gäste im finsteren Mittelpunkt eines Panoptikums.

Der Blick von den Bergen in die Niederungen hat die Menschen von jeher begeistert. Um nicht Berge erklimmen zu müssen, hat man sich wohl schon ebenso lange Gedanken über das Fliegen gemacht. Definitiv ist das durch Schamanismus und Mythen wie die Sage des Dädalus überliefert, in der davon berichtet wird, dass er mit seinem Sohn Ikarus Flugapparate baute und fliegen gelernt hat. Hier kommt interessanterweise schon zusammen wovon ich spreche; denn Dädalus war Metallurg und erfand damals auf Kreta den Guss mit der verlorenen Form. Die Prozedur beginnt mit der Herstellung eine Figur aus Lehm oder Ton. Eine Hohlform wird davon abgenommen und zu einem Gefäß zusammengefügt. Dieses wird mit Metall ausgegossen. Nach dem Erkalten wird die Hohl- form abgeschlagen und dadurch zerstört: sie ist „verloren“. Das Bemerkenswerte an diesem Mythos ist, dass hier die Ermöglichung des Leichten, also die Verwendung von Federn zum Bau von Flügeln mit der Beherrschung des Schweren in einer Hand liegt. Die Eroberung der Luft geht demzufolge auf die Kenntnisse dieses Metallurgen zurück, der sein Material aus den in der Erde liegenden Erzen gewinnt und den Guss seiner Figuren im Erdboden organisiert.

Heute gehen die Arbeiten in dieser Richtung weiter, denn wir werden bald die ersten Kunststoffpassagiermaschinen fliegen sehen, welche die großen Maschinen, die heute noch aus Metallen wie Aluminium, Titan, Magnesium und entsprechenden Legierungen gefertigt werden, ablösen. Unsere Halsstarrigkeit einer ganzheitlichen Sicht gegenüber, hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass wir irrigerweise annehmen, diese Bereiche wären früher getrennt gewesen. Genauso wenig kann das Immaterielle, das heute unser Leben bestimmt, ohne Material existieren. Deshalb ist auch die in diesem Zusammenhang stehende Bezeichnung postindustrielle Gesellschaft töricht, denn sie ignoriert, dass die Schwerindustrie nach wie vor die Voraussetzungen unseres Lebens produziert, auch wenn die damit verbundenen Belastungen der Umwelt und die physischen Anstrengungen bei uns unsichtbar geworden sind, weil sie in andere Länder verlagert worden sind. Die Globalisierung basiert ja auf einer weltweiten Arbeitsteilung, und um so fataler ist es, wenn wir die digitalen Luftschlösser, die Spezialfälle sind und unendlich mehr Ressourcen verbrauchen als andere Siedlungsformen, als voraussetzungslose Schöpfungen ansehen. Der Film „Wall-e“ (Regie Andrew Stanton, Pixar Animation, 2008) zeigt beide Ebenen als eine liebenswert-ironische Karikatur: Die Erdoberfläche ist ein Müllhaufen, der von Robotern sortiert wird, und die Menschen sind ins Weltall geflüchtet. wo sie in einem Megaraumschiff ziellos auf Dauerkreuzfahrt unterwegs sind.

Die Luftarchitektur von Werner Ruhnau, der mit dem Künstler der Leere Yves Klein zusammenarbeitete, ist ein gutes Beispiel für die Greifbarkeit, die diese Utopie in ihren Anfängen, den 1960er Jahren, hatte. Ruhnau schwebten Räume ohne Wände vor, die allein von einem stark beschleunigten Luftstrom von der Außenwelt abgetrennt worden wären. Vergleichbar ist dieses Verfahren heute mit Luftschleusen, wie wir sie heute aus Kaufhäusern oder anderen öffentlichen Gebäuden kennen, die den Innenraum durch einen Luftstrom im Eingangsbereich von der Außenwelt abtrennen.

In Licht aufgelöste Architektur
Fotos von Megastädten

Der obige Exkurs war notwendig, um die urbanen Konglomerate, die wir auf den hier projizierten Fotografien von Wahl sehen, in einen adäquaten Kontext zu rücken. Die Projektionen zeigen uns nur Licht das die Scheiben der aus Stahl und Glas gebauten Bürotürme durchdringt und zwischen ihnen für die Beleuchtung der Straßen und Plätze dient. Da sich aber nur das Licht auf dem Photochip abbildet, suggerieren die Bilder die Auflösung der materiellen Architektur. Nicht nur ihre Form verschwindet; die Bewegung der Kamera sorgt für zusätzliche Verwischungen, denn die Bilder sind aus dahingleitenden Autos gemacht worden. Licht und Datenspeicherung sind Bedingungen für eine Kunst, die wie es Francois Lyotard in seiner damals bahnbrechenden Arbeit „Les Immateriaux“4 vorschlug, die Materie zum Ver- schwinden bringt. Doch wissen wir heute, dass dies eine Illusion ist, denn der enorme Energiever- brauch der Städte und der gigantischen Maschinen, die das Internet und die digitalen Datenströme in Gang halten, erfordern Bauwerke, die als Infrastruktur und zur Herstellung der Energieflüsse die ganze Erde umspannen und ist, wie oben bereits ausgeführt, in hohem Maße von der Schwerindustrie abhängig.

Dieser Widerspruch, dem Yvonne Wahl als junge Steinbildhauerin während ihrer Zeit in Köln im Kontakt mit bildenden Künstlern – die vor allem konzeptuell arbeiteten – ausgesetzt war, hat schließlich die Entwicklung ausgelöst, deren vorläufiges Ergebnis wir hier sehen. Wie das Gespräch erkennbar machte, das ich zur Eröffnung der Ausstellung mit der Künstlerin führte, wird diese Erfahrung heute nüchtern eingestuft, denn die physische Aktion des Bildhauens, die eine geduldige tagelange Herausarbeitung einer Form ist, sieht sie als einen psycho-physischen Prozess der „Klärung“ und des „Einverleibens“. Er bezieht den Körper in die künstlerische Arbeit mit ein, was schon in Zeiten der Konzeptkunst ein entscheidender Impuls für die Hinwendung zur Performance war und dafür sorgte, „die physischen Anteile der Kunstproduktion von dem Stigma der Handwerklichkeit“ zu befreien.6  Hier gilt der Plan und die Intuition als die Voraussetzung dafür, eine Form zu erkennen und ihre Ausarbeitung zu planen, ehe die differenzierte physische Arbeit an dem Block einsetzt, um diese Form oder Vision in ein Bildwerk umzusetzen.

Zum Thema Bildhauerei als Aktionskunst, die den Prozess gegenüber dem Ergebnis favorisiert, gab die Künstlerin während der Eröffnung der Ausstellung eine Hör- und Sehprobe, als sie im Kellerraum des EINSTELLUNGS-RAUMS eine Kugel oder – wenn man so will – die Grundform eines Kopfes aus einem Quader schlug. Das Klopfen, das beharrliche Abarbeiten eines Pensums ist wahrscheinlich die Tugend, die wir angesichts der Fertigprodukte, die uns in allen Lebenslagen angeboten bekommen, neu lernen müssen. Wir müssen die Horizontale der Zweckmäßigkeit verlassen, um den Bewegungen in der Vertikale mehr Raum zu geben; denn es sind ja oft diejenigen, die aufsteigen und stürzen während sie etwas Neues hervorzubringen.

4 experimentelle Ausstellung am Centre Georges Pompidou 1985, die Lyotard mit Thierry Chapus u. a. Kuratierte. 6 J. L. Schröder: Identität / Überschreitung Verwandlung, Münster 1990, S. 112

Johannes Lothar Schröder lebt als Forscher, Lehrer und Autor in Hamburg. Seine Arbeitsgebiete sind der Zeitbezug in Werken der bildenden Kunst besonders im Futurismus und in der Performance Art sowie den hiervon beeinflussten künstlerischen Äußerungen.

http://blog.owlperformanceart.eu